4.3. Lösung einer technischen Aufgabe
Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist die erfinderische Tätigkeit zu dem für das Patent maßgebenden Stichtag anhand der im Patent enthaltenen Informationen in Verbindung mit dem zu diesem Zeitpunkt verfügbaren allgemeinen Fachwissen zu beurteilen (T 1329/04, T 1545/08, T 1433/14, T 488/16, T 1322/17).
Nachträglich veröffentlichte Beweisstücke (Beweismittel, die vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden, siehe z. B. T 116/18, ABl. 2022, A76) dafür, dass der beanspruchte Gegenstand die gestellte Aufgabe löst, werden berücksichtigt, wenn anhand der in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung enthaltenen Offenbarung bereits plausibel erscheint, dass die Aufgabe tatsächlich gelöst wird. Mit anderen Worten, zusätzliche, nachträglich veröffentlichte Beweisstücke können nicht die einzige Grundlage für den Nachweis bilden, dass die Aufgabe gelöst wird (T 1329/04, T 415/11, T 1791/11, T 488/16, T 212/17, T 1322/17). Nachträglich veröffentlichte Beweismittel können nur verwendet werden, um die Lehre der Anmeldung zu stützen (s. z. B. T 716/08, T 578/06). S. auch in diesem Kapitel I.D.4.4.3 b) "Nachträglich geltend gemachte technische Wirkung" und ebenfalls in diesem Kapitel I.D.9.9.3 "Breite Ansprüche".
In T 1329/04 stellte die Kammer fest, dass aus der Definition einer Erfindung als Beitrag zum Stand der Technik, d. h. als Lösung und nicht bloß als Stellung einer technischen Aufgabe, folgt, dass anhand der in der Anmeldung enthaltenen Offenbarung zumindest plausibel gemacht werden muss, dass die darin enthaltene Lehre die angeblich gelöste Aufgabe auch tatsächlich löst. Die im vorliegenden Fall nachträglich veröffentlichten Beweisstücke seien die erste über bloße Spekulation hinausgehende Offenbarung und daher außer Betracht zu lassen (s. auch T 778/08).
Zur Qualität der Beweismittel führte die Kammer in T 716/08 aus, dass der eindeutige Beweis für die Erzielung einer Wirkung keine Voraussetzung für die Plausibilität der Wirkung sei. S. auch T 266/10, in dem die Kammer erklärte, dass der eindeutige Beweis für die Erzielung der Wirkung keine Voraussetzung für die Plausibilität der Wirkung der vorgeschlagenen Modifikationen sei.
In T 578/06 wies die Kammer darauf hin, dass das EPÜ keinen experimentellen Nachweis der Patentierbarkeit verlangt; eine Offenbarung von Versuchsdaten oder -ergebnissen in der eingereichten Anmeldung und/oder in nachträglich veröffentlichten Beweisstücken ist nicht immer erforderlich, damit als gesichert gilt, dass der beanspruchte Gegenstand die objektive technische Aufgabe löst. Dies gilt insbesondere dann, wenn keine begründeten Zweifel geäußert werden. Die Kammer betonte jedoch, dass es nach der Rechtsprechung (mit besonderem Verweis auf T 716/08) im Rahmen der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit nur dann auf eine Glaubhaftmachung ankommt, wenn im betreffenden Fall begründete Zweifel daran bestehen können, dass die beanspruchte Erfindung geeignet ist, die gestellte technische Aufgabe zu lösen, und es daher keineswegs offensichtlich ist, dass die beanspruchte Erfindung die gestellte Aufgabe löst. S. auch T 2197/09.
In T 1322/17 stellte die Kammer fest, dass Versuchsdaten grundsätzlich nicht auf klinische Daten beschränkt sind. Sie sind auch nicht immer notwendig, um eine bestimmte Wirkung plausibel zu machen. Eine mechanistische Erklärung und/oder allgemeines Fachwissen können unter bestimmten Umständen ausreichen. Ergebnisse von Untersuchungen mit unbekannter Anordnung (z. B. Dosierungsanleitung), die nur den Erfindern bekannt sind, können bei der Beurteilung der Plausibilität bestimmter Wirkungen dagegen nicht berücksichtigt werden. Eine Erklärung allein, dass eine bestimmte Wirkung herbeigeführt wird (unter Bedingungen, die in den technischen Merkmalen des Anspruchs nicht wiedergegeben sind), macht aufgrund des Fehlens jeglicher stützender Umstände die Erzielung der Wirkung nicht plausibel.
In T 919/15 stellte die Kammer fest, dass ohne gegenteilige Anhaltspunkte im allgemeinen Fachwissen für das Herbizid (A) enthaltende Herbizidkombinationen gerade nicht davon ausgegangen werden konnte, dass ein Synergismus zwischen den in der ursprünglichen Anmeldung nicht getesteten Kombinationen per se unplausibel wäre. Diese Schlussfolgerung stand im Einklang mit T 863/12. So wurde auch in dieser Entscheidung bei der Bejahung der Plausibilität eines Effektes unter anderem darauf abgestellt, dass das allgemeine Fachwissen keine Anhaltspunkte enthielt, die diese Plausibilität in Frage stellten. Ferner stand diese Schlussfolgerung nicht im Widerspruch zu T 1329/04, die eine gänzlich andere Fallgestaltung betraf.
In T 1336/04 wies die Kammer darauf hin, dass sich die Lage im vorliegenden Fall von der der Entscheidung T 1329/04 zugrunde liegenden insofern unterscheidet, als die beanspruchte Erfindung aufgrund der Qualität der im Streitpatent angebotenen Beweise ein ernsthafter Lösungsvorschlag für die zu lösende Aufgabe ist. Im genannten früheren Fall war nicht anerkannt worden, dass das beanspruchte Polypeptid SEQ ID Nr. 3 ein Mitglied der TGF-Beta-Familie ist, weil nicht aufgezeigt wurde, dass es irgendeine Funktion hat, seine Struktur nicht der von Familienmitgliedern erwarteten entsprach und die erwartete Sequenzhomologie mit früheren Familienmitgliedern nicht vorlag. Im vorliegenden Fall bezog sich der Gegenstand des Anspruchs 1 dagegen auf neuartige cellulose- oder hemicelluloseabbauende Enzyme, die durch die Homologie ihrer CBDs mit der bekannter Cellulasen gekennzeichnet waren. Auf dieser Grundlage erkannte die Kammer an, dass die Aufgabe zufriedenstellend gelöst ist, und berücksichtigte dabei auch die Offenbarung in einem nachträglich veröffentlichten Dokument.
In T 1642/07 stellte die Kammer fest, dass das EPÜ, und vor allem sein Art. 56 EPÜ, kein Erfordernis enthält, wonach eine Patentanmeldung Versuchsergebnisse zur Stützung der Patentierbarkeit oder einer beanspruchten technischen Wirkung umfassen muss. Daher stand die Tatsache an sich, dass die Offenbarung in einer Patentanmeldung lediglich theoretischer Natur war und nicht durch Versuchsdaten gestützt wurde, der Patentierbarkeit oder der Anerkennung einer technischen Wirkung nicht entgegen. Die Kammer befand, dass die nachträglich veröffentlichten Dokumente als reine Bestätigung der bereits in der ursprünglich eingereichten Anmeldung (wenn auch nur auf theoretischer Ebene) verkündeten technischen Wirkung betrachtet werden kann. Sie sah keinen Grund, warum die beschriebene technische Wirkung angezweifelt werden sollte, und entschied, dass die nachveröffentlichten Beweismittel berücksichtigt werden können.
In T 536/07 stellte die Kammer Folgendes fest: Obwohl das Streitpatent keine Ausführungsbeispiele für den beanspruchten Gegenstand enthält und dieser nicht als bevorzugte Ausführungsart offenbart ist, hat der Fachmann a priori keinen Grund, ihn nicht als plausible Lösung der technischen Aufgabe zu betrachten. Es gibt keinen Hinweis auf ein mögliches Vorurteil im Stand der Technik oder auf zu erwartende Schwierigkeiten bei der Ausführung der vorgeschlagenen Lösung. Diese Situation unterschied sich von der T 1329/04 zugrunde liegenden, wo die Kammer entschied, dass der beanspruchte Gegenstand keine plausible Lösung der ermittelten technischen Aufgabe bietet. Im vorliegenden Fall hat die Kammer die nachträglich veröffentlichten Beweise berücksichtigt, die die Durchführbarkeit der vorgeschlagenen Lösung belegen.
In T 488/16 stellte die Kammer fest, dass die Frage, ob eine Erfindung plausibel ist, nicht allgemein beantwortet werden kann, weil diese Beurteilung von den Umständen des Einzelfalls abhängt, d. h. von der Art der Erfindung, der Offenbarung der Patentschrift und dem allgemeinen Fachwissen. Im vorliegenden Fall befand die Kammer, dass die nachveröffentlichten Dokumente als erste offenbarten, dass zumindest für bestimmte Thiazole, insbesondere für Dasatinib, die behauptete technische Aufgabe tatsächlich gelöst wurde. In Einklang mit der ständigen Rechtsprechung wurden diese Dokumente daher bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht berücksichtigt.
In T 2371/13 befand die Kammer hingegen, dass die mangelnde Plausibilität einer Wirkung wegen fehlender Beweise in der Patentanmeldung kein ausreichender Grund ist, um zum Nachweis dieser Wirkung nachgereichte Vergleichsversuche nicht zu berücksichtigen. Würde man die Versuche aus diesem Grund nicht berücksichtigen, widerspräche dies dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz, dem zufolge eine technische Aufgabe ausgehend vom nächstliegenden Stand der Technik zu definieren ist und dieser nicht unbedingt der in der Patentanmeldung genannte sein müsse. Laut der Kammer ist es durchaus üblich, zum Nachweis der erfinderischen Tätigkeit eine technische Wirkung geltend zu machen, die in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht ausdrücklich genannt ist. Der Einwand, wonach die Erfindung nach der Einreichung der Anmeldung erst noch zu machen war, sei eher eine Frage im Zusammenhang mit Art. 83 EPÜ.
In T 184/16 hielt die Kammer nach Beurteilung der ausreichenden Offenbarung und der erfinderischen Tätigkeit die beanspruchte Wirkung für plausibel und entschied daher, das nachveröffentlichte Beweismittel D4 zu berücksichtigen. Laut Kammer stehe die Anerkennung der Plausibilität nicht im Widerspruch zu der Feststellung, dass der beanspruchte Gegenstand gegenüber dem Stand der Technik nicht naheliegend war. Für Plausibilität und Naheliegen gälten unterschiedliche Kriterien. So reiche es für die Anerkennung der Plausibilität einer beanspruchten Wirkung aus, wenn prima facie keine ernsthaften Zweifel bestünden, dass die Wirkung erzielt werden könne, und umgekehrt im allgemeinen Fachwissen a priori kein Grund oder Hinweis darauf vorliege, dass die Wirkung nicht erzielt werden könne. Über das Naheliegen hingegen werde im Rahmen des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes entschieden, bei dem eine wichtige Überlegung in der Regel sei, ob die beanspruchte Lösung durch den Stand der Technik nahegelegt werde.
Beispiele für Fälle, in denen die Kammer eingereichte nachveröffentlichte Beweisstücke berücksichtigt hat, sind u. a. T 433/05, T 294/07, T 108/09, T 2134/10, T 1677/11, T 872/13, T 1898/15, T 212/17.
In T 108/09 stellte die Kammer bei der Anerkennung der Plausibilität den dieser Entscheidung zugrunde liegenden Fall dem Fall in T 1329/04 gegenüber, wo prima facie ernsthafte Zweifel bestanden, dass der Gegenstand die Aufgabe der Erfindung löse. Das Streitpatent dagegen enthielt ausführliche Informationen dazu, wie Fulvestrant formuliert und verabreicht werden muss, damit die gewünschte Wirkung als Mittel der Drittlinientherapie bei Brustkrebs erzielt wird. Die nachveröffentlichten Daten des Dokuments (10) enthielten ausreichende Beweismittel dafür, dass die Aufgabe plausibel gelöst worden war.
In T 1677/11 stellte die Kammer fest, dass sich der Sachverhalt im vorliegenden Fall wesentlich von dem der Entscheidung T 1329/04 zugrunde liegenden unterschied. Im vorliegenden Fall stimmte die Struktur des beanspruchten Natriumsalzes von (-)-Omeprazol vollständig mit derjenigen der bekannten Klasse von Magensäureblockern überein, während in T 1329/04 die strukturellen Merkmale des Polypeptids mit den von der Superfamilie erwarteten nicht übereinstimmten. Zudem war im Streitpatent eine Synthese des beanspruchten Salzes offenbart und eine eindeutige Erklärung enthalten, dass es "ein verbessertes therapeutisches Profil wie ein geringeres Maß an interindividueller Variation" biete. Die Kammer sah daher a priori keinen Grund, warum der Fachmann dies als nicht plausibel erachten sollte, und hielt es daher für angebracht, die eingereichten nachveröffentlichten Beweismittel bei der Beurteilung zu berücksichtigen, ob die ermittelte Wirkung tatsächlich zu beobachten ist.
Beispiele für Fälle, in denen die Kammer die eingereichten nachveröffentlichten Beweismittel nicht berücksichtigt hat, sind u. a. T 1306/04, T 861/08, T 1791/11, T 125/12, T 1196/12, T 1433/14, T 488/16, T 1322/17.
In T 1791/11 erklärte die Kammer, aus der Patentanmeldung selbst sei ersichtlich, dass noch nicht bekannt sei, welche Varianten die Aufgabe lösen, und dass noch ein Versuch durchgeführt werden müsse, um den behaupteten Vorteil zu bestätigen. Sie kam daher zu dem Schluss, das Patent mache es nicht plausibel, dass der beanspruchte Gegenstand die vom Beschwerdeführer (Patentinhaber) formulierte technische Aufgabe löse, und die experimentellen nachveröffentlichten Beweismittel seien tatsächlich die einzige Grundlage für den Schluss, dass die betreffende Aufgabe plausibel gelöst wurde.
In T 116/18 (ABl. 2022, A76) stellte die Kammer fest, ob nachveröffentlichte Beweismittel berücksichtigt werden können, sei eine grundsätzliche Rechtsfrage, zu der divergierende Rechtsprechungslinien existierten. Nach Meinung der Kammer gibt es drei voneinander abweichende Rechtsprechungslinien, von denen zwei Extrempositionen umfassen: die strikte Anwendung des Maßstabs der "Ab-initio-Plausibilität" einerseits (Nr. 13.4 der Gründe) und die Ablehnung der Plausibilität andererseits (Nr. 13.6 der Gründe). Der Maßstab der "Ab-initio-Unplausibilität" schien für die Kammer, was die Ergebnisse seiner Anwendung angeht, irgendwo zwischen diesen beiden extremen Rechtsprechungslinien zu liegen (Nr. 13.5 der Gründe). Die Kammer legte der Großen Beschwerdekammer folgende Fragen vor (die in G 2/21 zu entscheiden sind):
Wenn sich der Patentinhaber für die Anerkennung erfinderischer Tätigkeit auf eine technische Wirkung beruft und Beweismittel, z. B. Versuchsdaten, zum Nachweis dieser Wirkung vorgelegt hat, die vor dem Anmeldetag des Streitpatents nicht öffentlich zugänglich waren und erst nach diesem Tag eingereicht wurden (nachveröffentlichte Beweismittel):
1. Ist dann eine Ausnahme vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung dahin gehend zuzulassen, dass nachveröffentlichte Beweismittel unberücksichtigt bleiben müssen, weil der Nachweis für die Wirkung ausschließlich auf diesen beruht?
2. Falls diese Frage bejaht wird, können die nachveröffentlichten Beweismittel dann berücksichtigt werden, wenn der Fachmann am Anmeldetag der strittigen Patentanmeldung ausgehend von den darin enthaltenen Angaben oder vom allgemeinen Fachwissen die Wirkung für plausibel erachtet hätte (Ab-initio-Plausibilität)?
3. Falls die erste Frage bejaht wird, können die nachveröffentlichten Beweismittel dann berücksichtigt werden, wenn der Fachmann am Anmeldetag der strittigen Patentanmeldung ausgehend von den darin enthaltenen Angaben oder vom allgemeinen Fachwissen keinen Grund gesehen hätte, die Wirkung für unplausibel zu erachten (Ab-initio-Unplausibilität)?
Kapitel II.C.6.8 "Nachveröffentlichte Dokumente" behandelt das Thema der nachveröffentlichten Beweismittel in Bezug auf ausreichende Offenbarung (Art. 83 EPÜ).
- G 2/21
Headnote:
I. Evidence submitted by a patent applicant or proprietor to prove a technical effect relied upon for acknowledgement of inventive step of the claimed subject-matter may not be disregarded solely on the ground that such evidence, on which the effect rests, had not been public before the filing date of the patent in suit and was filed after that date. II. A patent applicant or proprietor may rely upon a technical effect for inventive step if the skilled person, having the common general knowledge in mind, and based on the application as originally filed, would derive said effect as being encompassed by the technical teaching and embodied by the same originally disclosed invention.