2.2. Prioritätsrecht des Anmelders oder seines Rechtsnachfolgers
Nach Art. 87 (1) EPÜ geht ein Prioritätsrecht auf den Erstanmelder zurück. Deshalb muss der Anmelder der Erstanmeldung grundsätzlich derselbe sein wie der Anmelder der Nachanmeldung, für die das Prioritätsrecht in Anspruch genommen wird. Jedoch kommt nach Art. 87 (1) EPÜ das Prioritätsrecht auch dem "Rechtsnachfolger" desjenigen zu, der die Erstanmeldung eingereicht hat. Mit dem Verweis auf den "Rechtsnachfolger" wird zugebilligt, dass das Prioritätsrecht als Rechtsanspruch vom ursprünglichen Anmelder auf einen Dritten übergehen kann. Es ist allgemein anerkannt, dass das Prioritätsrecht unabhängig von der prioritätsbegründenden ersten Anmeldung und auch für nur ein Land bzw. nur einige Länder an einen Dritten übertragen werden kann. Es ist ein unabhängiges Recht, bis es für eine oder mehrere jüngere Anmeldungen in Anspruch genommen wird, für die es zu einem akzessorischen Recht wird und als solches von dem Recht auf das Patent zu unterscheiden ist, welches entweder aus dem materiellen Recht oder aus der Stellung als Anmelder der ersten Anmeldung erwächst (T 205/14 mit weiteren Verweisen; s. auch T 969/14 und T 1201/14 mit weiteren Verweisen).
In T 844/18 stellte die Kammer fest, dass die Instanzen des EPA befugt und verpflichtet sind, die Wirksamkeit eines Prioritätsanspruchs nach Art. 87 (1) EPÜ zu beurteilen, was auch beinhaltet zu prüfen, "wer" das Prioritätsrecht genießt. Auf diese Entscheidung wird in den Abschnitten II.D.2.2.2 und II.D.2.2.3 näher eingegangen. Um diesen Aspekt geht es auch in der ersten Vorlagefrage an die Große Beschwerdekammer in G 1/22 und G 2/22 (s. auch Kapitel II.D.2.2.3).
Was die Rechtsnachfolge beim Prioritätsrecht anbelangt, so ergibt sich laut T 1201/14 schon aus dem Wortlaut des Art. 87 (1) EPÜ 1973, dass der Rechtsübergang bei Einreichung der Nachanmeldung bereits vollzogen sein muss. Bereits in T 577/11 bestätigte die Kammer, dass eine Rechtsnachfolge, die erst nach dem Tag der Einreichung der Nachanmeldung eintritt, nicht ausreicht, um die Erfordernisse des Art. 87 (1) EPÜ 1973 zu erfüllen und, dass diese Feststellung im Einklang mit Art. 4 der Pariser Verbandsübereinkunft und der Entstehungsgeschichte dieser Vorschriften steht.
Die Kammer in T 969/14 befand unter Verweis auf die Entscheidung G 1/15 der Großen Beschwerdekammer ("Teilpriorität", ABl. 2017, A82), dass einmal anerkannte Teilprioritätsrechte gesondert übertragbar sein müssen. Dies hat jedoch Folgen für das verbleibende Prioritätsrecht, weil dem Übertragenden nur ein eingeschränktes Recht verbleibt. Zu Teil- und Mehrfachprioritäten s. auch Kapitel II.D.5. Für Entscheidungen zu den Ansprüchen von Mitanmeldern s. Abschnitt II.D.2.2.3 dieses Kapitels.