7.3. Mündliche Verhandlung als Videokonferenz
Die Kammer in T 1807/15 hat die Große Beschwerdekammer mit der folgenden Rechtsfrage befasst: Ist die Durchführung der mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz mit dem in Art. 116 (1) EPÜ verankerten Recht auf mündliche Verhandlung vereinbar, wenn nicht alle Beteiligten ihr Einverständnis mit der Durchführung der mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz erklärt haben?
Diese Frage beantwortete die Große Beschwerdekammer in G 1/21 date: 2021-07-16 vom 16. Juli 2021 wie folgt: In einem allgemeinen Notfall, der die Möglichkeit der Beteiligten einschränkt, persönlich an einer mündlichen Verhandlung in den Räumlichkeiten des EPA teilzunehmen, ist die Durchführung der mündlichen Verhandlung vor einer Beschwerdekammer in Form einer Videokonferenz mit dem EPÜ vereinbar, auch wenn nicht alle Beteiligten ihr Einverständnis mit der Durchführung der mündlichen Verhandlung in dieser Form erklärt haben. Die Große Beschwerdekammer erachtete es für gerechtfertigt, den Umfang der Vorlagefrage auf mündliche Verhandlungen vor den Beschwerdekammern zu beschränken und den besonderen Rahmen der Vorlage, nämlich einen allgemeinen Notfall (die COVID-19-Pandemie), zu berücksichtigen.
Die Große Beschwerdekammer legte Art. 116 EPÜ dahingehend aus – unter Einbeziehung insbesondere des Sinn und Zwecks der mündlichen Verhandlung, nämlich den Parteien die Gelegenheit zu geben ihre Argumente mündlich vorzutragen, dass eine in Form einer Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung eine mündliche Verhandlung im Sinne des Art. 116 EPÜ ist. Selbst wenn das Format der Videokonferenz bestimmte Nachteile hat, so bietet es den Beteiligten dennoch die Gelegenheit, ihre Argumente mündlich zu präsentieren.
Dann ging die Große Beschwerdekammer darauf ein, ob eine Videokonferenz einer Präsenzverhandlung gleichwertig ist und ob sie ein geeignetes Format zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung ist. Sie räumte ein, dass eine als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung – zumindest derzeit – nicht die gleichen Kommunikationsmöglichkeiten bietet wie eine Präsenzverhandlung, bei der alle Beteiligten persönlich in einem Gerichtssaal anwesend sind. Die Große Beschwerdekammer folgerte, dass die Einschränkungen die derzeit mit der Verwendung der Videotechnologie einhergehen dazu führen, dass dieses Format für die mündliche Verhadlung suboptimal ist, jedoch im Normalfall nicht in einem solchen Ausmaß, dass das Recht auf rechtliches Gehör einer Partei oder das Recht auf ein faires Verfahren dadurch ernsthaft beeinträchtigt würde.
Als Nächstes setzte sich die Große Beschwerdekammer mit der Frage auseinander, ob ein Beteiligter ein Recht auf eine mündliche Präsenzverhandlung hat. Der Wunsch nach einer mündlichen Präsenzverhandlung kann den Beteiligten nur mit gutem Grund verwehrt werden. Erstens muss es eine geeignete Alternative geben. Ist im konkreten Einzelfall das Format der Videokonferenz ungeeignet, muss die mündliche Verhandlung als Präsenzverhandlung durchgeführt werden. Zweitens müssen zudem die Umstände im konkreten Einzelfall die Entscheidung rechtfertigen, die mündliche Verhandlung nicht als Präsenzverhandlung durchzuführen. Diese Umstände sollten sich auf Einschränkungen und Behinderungen beziehen, die einen Beteiligten daran hindern, persönlich an einer mündlichen Verhandlung in den Räumlichkeiten des EPA teilzunehmen. Im Falle einer Pandemie können solche Umstände allgemeine Reisebeschränkungen oder die Unterbrechung von Reiseverbindungen, Quarantäneauflagen, Zugangsbeschränkungen in den EPA-Gebäuden und andere gesundheitsbezogene Maßnahmen zur Eindämmung der Krankheitsausbreitung sein. Drittens muss die Entscheidung, ob gute Gründe es rechtfertigen, der Präferenz eines Beteiligten für die Durchführung als mündliche Präsenzverhandlung nicht nachzukommen, dem Ermessen der Beschwerdekammer anheimgestellt sein.
In T 1197/18 kam die Kammer zu dem Schluss, dass die Pandemie ein allgemeiner Notfall ist und in einem solchen der Entscheidung G 1/21 date: 2021-07-16 zufolge die Durchführung der mündlichen Verhandlung vor der Kammer in Form einer Videokonferenz mit dem EPÜ vereinbar ist, auch wenn der Beschwerdeführer nicht damit einverstanden war.
Die Kammer in T 2474/17 stellte fest, dass ihre Entscheidung, die mündliche Verhandlung als Videokonferenz durchzuführen, mit Art. 15a (1) VOBK 2020 und mit der Entscheidung G 1/21 date: 2021-07-16 in Einklang steht. Der Begründung der Großen Beschwerdekammer zufolge ist die Pandemie ein allgemeiner Notfall, der die Möglichkeit der Beteiligten einschränkt, persönlich an einer mündlichen Verhandlung in den Räumlichkeiten des EPA teilzunehmen, und somit ein "guter Grund", die mündliche Verhandlung als Videokonferenz durchzuführen, obwohl sich der Beschwerdeführer ausdrücklich für eine Präsenzverhandlung ausgesprochen hatte. Die dauernde Vertagung mündlicher Verhandlungen während der Pandemie ist ein weiterer Grund, dem Wunsch eines Beteiligten nach einer mündlichen Präsenzverhandlung nicht nachzukommen.
- T 618/21
Catchword:
1. Artikel 15a VOBK 2020 gibt der Kammer ein Ermessen bei der Entscheidung, die mündliche Verhandlung von Amts wegen, gegebenenfalls auch gegen den Willen der Parteien, als Videokonferenz durchzuführen. Maßgebliches Kriterium ist die Zweckmäßigkeit. 2. Der Begriff "zweckmäßig" impliziert, dass das Format der Videokonferenz zur Erreichung des mit der mündlichen Verhandlung angestrebten Zwecks grundsätzlich geeignet und darüber hinaus auch sinnvoll (sachdienlich) erscheint. a. Das Kriterium der Eignung bildet eine absolute Schranke und schließt für die konkret vorgesehene Verhandlung ungeeignete Verhandlungsformate aus, diese sind immer unzweckmäßig. b. Das Kriterium der Sachdienlichkeit erfordert eine abwägende Gesamtbetrachtung aller Aspekte, die im Zusammenhang mit der Planung und Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einer Beschwerdekammer eine Rolle spielen und das hierfür gewählte Format als mehr oder weniger sachdienlich für die Erreichung des Zwecks der Verhandlung erscheinen lassen. Die Abwägung sollte vorrangig auf objektiven Erwägungen beruhen. Die subjektiven Einschätzungen der Parteien können eine ergänzende Rolle spielen; sie fallen umso stärker ins Gewicht, je mehr die Empfindungen durch von den Parteien vorgetragene objektivierbare Argumente gestützt sind. Es ist nicht auszuschließen, dass es mehrere zweckmäßige Formate nebeneinander geben kann. 3. Die Regelungen des Artikels 15a VOBK widersprechen weder höherrangigem Recht, noch den wesentlichen Schlussfolgerungen der Großen Beschwerdekammer in der Entscheidung G1/21. 4. Aufgrund der zwischenzeitlich eingetretenen technischen Weiterentwicklung und größeren Erfahrung aller Beteiligten können Videokonferenzen in den meisten Fällen inzwischen als nahezu gleichwertige Alternative zu einer Präsenzverhandlung angesehen werden. Konkrete Umstände des Einzelfalls können allerdings dazu führen, dass das Format der Videokonferenz entweder schon nicht geeignet oder bei einer Gesamtabwägung zumindest so wenig sachdienlich erscheint, dass die nach Artikel 15a VOBK erforderliche Zweckmäßigkeit fehlt.
- T 758/20
Catchword:
Decision G 1/21 cannot be read as restricting the possibility of summoning for oral proceedings by videoconference contrary to the will of one of the parties only in the case of a general emergency. G 1/21 does not exclude that there are other circumstances specific to a case that justify the decision not to hold the oral proceedings in person.
- T 2432/19
Catchword:
1. Although the order of G 1/21 refers to an emergency situation, it follows from the ratio decidendi of this decision that in-person oral proceedings can only be denied under very limited conditions, even in a situation of general emergency such as a pandemic. 2. Due to the fact that videoconferences, at least with current technology, can only provide a suboptimal form of communication, parties have a right to the optimum format for oral proceedings, i.e. in-person oral proceedings, that can only be denied under very limited conditions. 3. Further, e contrario it also follows from the reasons underlying the Enlarged Board's decision, that parties cannot force Boards to conduct videoconferences instead of in-person oral proceedings.