4. Beweiswürdigung
Weder das EPÜ noch die Rechtsprechung der Beschwerdekammern stellt formelle Regeln zur Beweiswürdigung auf. Die Große Beschwerdekammer wies darauf hin, dass für die Verfahren vor dem EPA der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gilt (G 1/12, ABl. 2014, A114 unter Verweis auf G 3/97, ABl. 1999, 245, Nr. 5 der Gründe und G 4/97, ABl. 1999, 270, Nr. 5 der Gründe).
Die Organe des EPA sind daher befugt, im Einzelfall zu prüfen, ob die behaupteten Tatsachen hinreichend nachgewiesen sind. Entsprechend dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung trifft das jeweilige Organ seine Entscheidung auf der Grundlage aller im Verfahren verfügbaren Beweise und aufgrund der freien Überzeugung, zu der es in der Frage, ob eine behauptete Tatsache sich tatsächlich zugetragen hat oder nicht, gelangt ist (s. z. B. T 482/89, ABl. 1992, 646; T 592/98, T 972/02; s. auch T 838/92, wo sich die Kammer von einem Bündel genauer und übereinstimmender Elemente überzeugen ließ, dass der Verkauf einer Vorrichtung vor der Einreichung der Streitanmeldung erfolgt war).
Der im Verfahren vor dem EPA geltende Grundsatz der freien Beweiswürdigung geht nicht so weit, dass die Ablehnung eines relevanten und angemessenen Angebots eines Beweismittels gerechtfertigt werden könnte. Freie Beweiswürdigung bedeutet, dass es keine festen Regeln gibt, nach denen bestimmten Beweismitteln eine bestimmte Überzeugungskraft beigemessen oder abgesprochen wird. Aus der Sicht des angerufenen Organs ist unter Berücksichtigung aller relevanten Beweismittel zu prüfen, ob eine Tatsache als bewiesen angesehen werden kann (T 474/04, ABl. 2006, 129 unter Verweis auf G 3/97, ABl. 1999, 245, Nr. 5 der Gründe). Allerdings kann die Nichtvorlage vorhandener Beweismittel trotz einer entsprechenden Aufforderung der Kammer als Indiz dafür gewertet werden, dass die Beweismittel den behaupteten Sachverhalt möglicherweise nicht bestätigen (s. T 428/98).
In T 1363/14 stellte die Kammer hinsichtlich der Weigerung, die Zeugenvernehmung anzuordnen, fest, dass das Prinzip der freien Beweiswürdigung erst nach Erhebung der Beweismittel anwendbar ist und nicht zur Rechtfertigung verwendet werden kann, angebotene Beweise nicht zu erheben. S. auch T 2238/15 und alle angeführten Entscheidungen; s. auch dieses Kapitel III.G.2.2.
In J 14/19 (Aussetzung des Verfahrens) erklärte die Kammer, dass dem EPA bei der Entscheidung über eine Aussetzung nach R. 14 (1) EPÜ kein Ermessen zukommt. Weist ein Dritter das Vorliegen der in R. 14 (1) EPÜ genannten Voraussetzungen rechtzeitig nach, muss das Erteilungsverfahren ausgesetzt werden. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für die Aussetzung nach R. 14 (1) EPÜ erfüllt sind oder nicht. Dabei handelt es sich um keine Frage des Ermessens, sondern um eine Frage der Beweiswürdigung. Bei dieser verschafft sich das Entscheidungsorgan anhand der Beweismittel eine Überzeugung von der Richtigkeit der behaupteten Tatsachen (s. G 1/12, ABl. 2014, A114). Steht eine entscheidungserhebliche Tatsache nach Ansicht des Entscheidungsorgans nicht fest, kann es gemäß Art. 114 (1) EPÜ die Vorlage von weiteren Beweismitteln anordnen.
- G 2/21
Headnote:
I. Evidence submitted by a patent applicant or proprietor to prove a technical effect relied upon for acknowledgement of inventive step of the claimed subject-matter may not be disregarded solely on the ground that such evidence, on which the effect rests, had not been public before the filing date of the patent in suit and was filed after that date.
II. A patent applicant or proprietor may rely upon a technical effect for inventive step if the skilled person, having the common general knowledge in mind, and based on the application as originally filed, would derive said effect as being encompassed by the technical teaching and embodied by the same originally disclosed invention.