4.2.2 Zeugenaussagen und schriftliche Erklärungen
Der Umfang der diesbezüglichen Zuständigkeit der Beschwerdekammern wurde in einigen jüngeren Entscheidungen ausdrücklich thematisiert, so in T 1418/17 (s. unten), der jedoch die Kammer in der noch jüngeren Entscheidung T 1604/16 nicht folgte, sondern befand, dass die Beschwerdekammern zu einer vollständigen Überprüfung angefochtener Entscheidungen befugt sind.
In T 2565/11 hob die Beschwerdekammer die Beweiswürdigung der ersten Instanz mit der Begründung auf, dass sich die Einspruchsabteilung in Bezug auf die zugrunde liegenden Tatsachen geirrt und keine widerspruchsfreie Bewertung abgegeben hatte. Die Beschwerdekammer gab ihre eigene Beweiswürdigung in Bezug auf die maßgebenden Tatsachen ab. Außerdem stellte die Kammer fest, dass zusätzliche Erläuterungen, die ein Zeuge abgegeben hat, um eine potenzielle Lücke bei den aktenkundigen schriftlichen Beweismitteln zu schließen, nicht per se als neue Tatsachen betrachtet werden können. Anderenfalls wäre die Anhörung eines Zeugen bedeutungslos, und schriftlichen Beweismitteln würde ein höherer Beweiswert beigemessen als Zeugenaussagen; dafür ist im EPÜ keine Grundlage zu finden. Die Entscheidung T 2565/11 wird in T 2398/12 im Hinblick auf einen Gegenstand angeführt, der als Nachweis einer angeblichen öffentlichen Vorbenutzung vorgelegt wurde; dieser Gegenstand ging im Beschwerdeverfahren verloren, war aber bereits von der Einspruchsabteilung geprüft worden.
In T 1476/14 sah die Kammer im vorliegenden Fall keinen Grund, die von der Einspruchsabteilung vorgenommene Bewertung der Aussagen von zwei Zeugen zu revidieren. Die Glaubwürdigkeit der Zeugen kann nicht aufgrund von Abweichungen zwischen den Zeugenaussagen in Zweifel gezogen werden, die nicht den Kern, sondern untergeordnete Elemente der Vorbenutzung betreffen.
In T 1798/14 hatte die Einspruchsabteilung den Zeugen als glaubwürdig erachtet und seine Antworten insgesamt als detailgenau, glaubhaft und in sich widerspruchfrei bewertet. Die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) hatte insoweit auch keine Bedenken vorgetragen; sie hatte lediglich bestritten, dass die Maschine, soweit sie vom Zeugen gesehen wurde, alle Anspruchsmerkmale aufwies. Die Kammer sah keinen Grund, von dieser Einschätzung abzuweichen und die Richtigkeit der Aussage von dem Zeugen zu bezweifeln. In T 544/14 wurde die Frage der Beweiswürdigung von der Kammer erneut eingehend diskutiert (erneute Vernehmung des Zeugens erforderlich, letztendlich aber nicht entscheidend – offenkundige Vorbenutzung nicht neuheitschädlich).
Die Kammer in T 621/14 stellte fest, dass das Beschwerdeverfahren nicht dazu dient, eine zweite Beweisinstanz zur Verfügung zu stellen, wenn nicht hinreichende Beschwerdeangriffe dazu Anlass bieten. Allein der Wunsch nach einer anderweitigen Beweiswürdigung führe nicht zu einem erneuten Eintritt in das Beweisverfahren bei der Beschwerdekammer. Die Kammer sah keine Veranlassung, von dem durch die Einspruchsabteilung anhand der Zeugenvernehmung ermittelten Stand der Technik abzuweichen.
In T 1107/12 stellte die Kammer fest, dass die Würdigung der Zeugenvernehmung des Dr. J durch die Einspruchsabteilung keinerlei Zweifel an der Glaubhaftigkeit seiner Aussage oder an der Glaubwürdigkeit seiner Person ergeben habe. Die Beweiswürdigung sei ohne Rechtsfehler und unter Heranziehung der maßgeblichen Kriterien erfolgt, sei in allen Punkten nachvollziehbar und weise auch keine Denkfehler auf, sodass es nicht an der Kammer sei, ihre eigene Beweiswürdigung an die Stelle derjenigen der Einspruchsabteilung zu setzen.
In T 804/92 (ABl. 1994, 862) hatte die Einspruchsabteilung den Inhalt einer Erklärung unter Eid in einer Mitteilung an die Parteien detailliert vorgegeben. Ein solches Vorgehen wurde von der Kammer nachdrücklich abgelehnt, weil es die Gefahr der Zeugenbeeinflussung in sich birgt und ernstliche Zweifel an der Beweiskraft derartiger Erklärungen wecken kann. Dies gilt für jede Instanz im Verfahren vor dem EPA.
In T 1418/17 stellte die Kammer fest, dass alle relevanten Argumente der Parteien hinsichtlich beider Vorbenutzungen (Verkauf/Ausstellung) bereits im erstinstanzlichen Verfahren geltend gemacht und berücksichtigt worden waren. Hinsichtlich der von der Einspruchsabteilung vorgenommenen Feststellung der relevanten Fakten sei zu berücksichtigen, dass vor dem EPA anerkanntermaßen der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gilt (G 3/97, G 1/12), was auch Auswirkungen auf die Überprüfung im Beschwerdeverfahren haben muss (T 1107/12, T 621/14). Soweit kein Rechtsanwendungsfehler vorliegt (wie etwa ein falscher Beweismaßstab), sollte eine Beschwerdekammer daher die Beweiswürdigung eines erstinstanzlichen Spruchkörpers nur aufheben und durch ihre eigene ersetzen, wenn diese erkennbar (i) wesentliche Gesichtspunkte nicht berücksichtigt hat (T 1553/07) oder (ii) sachfremde Erwägungen mit einbezogen hat (T 2565/11) oder (iii) einen Verstoß gegen die Denkgesetze, etwa logische Fehler und Widersprüche in der Begründung, erkennen lässt (T 2565/11). Die Beweiswürdigung war der Einspruchsabteilung nicht zu beanstanden. Anders als die Einspruchsabteilung war die Kammer jedoch der Auffassung, dass die offenkundige Vorbenutzung auf Messen neuheitsschädlich war.
Bislang haben drei Entscheidungen auf T 1418/17 Bezug genommen. In T 1057/15 wurde auf die im zweiten Orientierungssatz von T 1418/17 angeführten Grundsätze verwiesen und die Beweis- und Tatsachenwürdigung der Einspruchsabteilung in der vorliegenden Sache bestätigt; in T 41/19 schloss sich die Kammer den in T 1418/17 aufgestellten Grundsätzen an. In T 1604/16 wich die Kammer von T 1418/17 ab und vertrat die Auffassung, dass die Kammern befugt seien, die angefochtene Entscheidung vollständig zu überprüfen – auch in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Der Entscheidung T 1604/16 folgte die Kammer in T 1069/14.
In T 1604/16 betraf die Erfindung eine faltbare Rampe zum Verladen eines Rollstuhls in ein Fahrzeug. Die Einspruchsabteilung hatte entschieden, dass eine Vorbenutzung der Erfindung vorlag. Ausgehend von E1, E1/1 (mit Fotografien) und der Zeugenaussage (einer Käuferin eines entsprechend ausgestatteten Fahrzeugs) hatte die Einspruchsabteilung ihre Entscheidung getroffen. Die der Kammer vorgelegten Beweismittel umfassten die Unterlagen E1, E1/1 und die Niederschrift über die Zeugeneinvernahme in der ersten Instanz. Die Glaubwürdigkeit der Zeugin stand außer Frage (siehe dazu im Allgemeinen T 474/04). Nach Auffassung der Kammer hat der Grundsatz der freien Beweiswürdigung keine unmittelbare Auswirkung auf den Umfang ihrer Befugnis, Entscheidungen zu überprüfen. Die Kammer verwies auf die Erläuterungen zu Art. 12 (2) VOBK 2020, wonach die Kammern befugt sind, die angefochtene Entscheidung vollständig zu überprüfen, so auch in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht. Sie war sich sehr wohl dessen bewusst, dass es Rechtsprechung gibt, die die Befugnis der Kammern zur Überprüfung von Ermessensentscheidungen einschränkt, doch erachtete sie die Beweiswürdigung nicht als eine Ermessensentscheidung. Die Kammer sah keinen Grund, warum sie ihre Überprüfung der Tatsachenfeststellungen der Einspruchsabteilung bezüglich der offenkundigen Vorbenutzung durch eine Anwendung der in T 1418/17 aufgestellten Kriterien beschränken sollte. Da weiterhin gewisse Zweifel bestanden, die sich aus dem Inhalt der Niederschrift ergaben, befand die Kammer im vorliegenden Fall, dass die vorgelegten Beweismittel unzureichend waren und die Einspruchsabteilung somit fälschlicherweise entschieden habe, dass die in E1/1 abgebildete Rampe zum Stand der Technik gehöre. Siehe auch Kapitel V.A.3.2.1 "Vorrangiges Ziel des Beschwerdeverfahrens (Artikel 12 (2) VOBK 2020)".
- T 42/19
Catchword:
1. A boards' power to review appealed decisions is not limited to points of law but extends to points of facts (in agreement with T 1604/16). 2. However, it is settled case law that a board is not obliged to take all the evidence anew and that parties do not have the right to have the taking of evidence repeated at their request before the board. 3. The principle of free evaluation of evidence, meaning that there are no firm rules on the probative value of the various types of evidence but that the deciding body is entrusted with weighing up all the evidence and basing its decision on what it is then satisfied has been established, implies a degree of freedom comparable to the one referred to by the Enlarged Board of Appeal in decision G 7/93, Reasons 2.6. 4. Thus, it is wise to similarly respect this freedom, especially when taking into account that a board, except when only reviewing documentary evidence, does not have the same first-hand impression of the probative value of a means of evidence as a department of first instance that has itself heard a witness or expert or inspected an object. 5. Although the Board is not limited in its decision, it normally seems useful to apply the test set out in decision T 1418/17, Reasons 1.3: Unless the law has been misapplied (e.g. application of the wrong standard of proof), a board of appeal should overrule a department of first instance's evaluation of evidence and replace it with its own only if it is apparent from that department's evaluation that it: (i) disregarded essential points, (ii) also considered irrelevant matters or (iii) violated the laws of thought, for instance in the form of logical errors and contradictions in its reasoning. 6. The evaluation of evidence only refers to establishing whether an alleged fact has been proven to the satisfaction of the deciding body. The discretion-like freedom is restricted to this question and does not extend to the further question of how the established facts are to be interpreted and what the legal consequences are. (see Reasons 3.2 to 3.6).