Hochleistungsfasern aus Spinnenseide: Thomas Scheibel für den Europäischen Erfinderpreis 2018 nominiert
- Der deutsche Biochemiker Thomas Scheibel ist für die Entwicklung der weltweit ersten biotechnischen Spinnenseide für Preis des Europäischen Patentamts (EPA) nominiert
- Scheibels künstliche Spinnenseide ermöglicht vielfältige Anwendungen in Textilien, Medizin und Kosmetik
- Vollständig künstlich produziert und 15 Prozent leichter als herkömmliche synthetische Fasern
- EPA-Präsident Battistelli: „Thomas Scheibels Erfindung macht eines der stärksten Materialien, das in der Natur zu finden ist, zum marktreifen Produkt und im Industriemaßstab verfügbar."
München, 24 April 2018 - Spinnennetze zählen zu den stärksten Konstruktionen der Natur. Sie haben eine phänomenale Fähigkeit, Gewicht zu tragen, Stößen standzuhalten und sich um bis zu 140 Prozent zu dehnen, ohne zu reißen. Das Geheimnis liegt in der Spinnenseide: Sie ist 30 Mal stärker als Stahl und mindestens dreimal so widerstandsfähig wie Kevlar®, das synthetische Material in kugelsicheren Westen. Seit Jahrzehnten haben Wissenschaftler vergeblich versucht, Spinnenseide als ultrastarkes Material industriell herzustellen. Erst 2014 kamen dank wegweisender Erfindungen des deutschen Biochemikers Thomas Scheibel die ersten kommerziellen Produkte auf den Markt. Mit „Biomimicry" imitierte er die spinnen-eigene Technik der Seidenherstellung im Labor und perfektionierte dieses Verfahren zu einem Herstellungsprozess von biotechnischen Spinnenseidenproteinen und daraus gesponnenen Fasern.
Für diese Leistung wurde Thomas Scheibel als einer von drei Finalisten für den Europäischen Erfinderpreis 2018 in der Kategorie „Kleine und mittlere Unternehmen (KMU)" nominiert. Die Auszeichnung wird am 7. Juni 2018 im Rahmen eines Festakts in Paris, Saint-Germain-en-Laye, verliehen.
„Thomas Scheibels Herstellungsverfahren für künstliche Spinnenseide nutzt fortschrittliche biotechnologische Methoden, um eines der widerstandsfähigsten Materialien der Natur in die industrielle Produktion ein zu bringen", sagte EPA-Präsident Benoît Battistelli bei der Bekanntgabe der Finalisten des Europäischen Erfinderpreises 2018. „Jahre voller konzentrierter, lösungsorientierter Arbeit auf biochemischer und mechanischer Ebene haben die patentierte Erfindung zu einem marktreifen Produkt gemacht."
Natur in Wissenschaft umwandeln
Spinnenseide ist unglaublich leicht: Ein Strang, der lang genug ist, um die Erde zu umfassen, würde weniger als ein Stück Seife wiegen. Gleichzeitig ist sie auch stark und vielseitig. „Gegenwärtig kennen wir 45.000 verschiedene Spinnenarten auf der Erde. Sie alle produzieren ihre individuelle Seide mit einzigartigen Eigenschaften: Manche sind wie Klebstoff, manche sind stark, andere elastisch", sagt Thomas Scheibel. So vielseitig das Material auch sein mochte, die Massenproduktion dieser Faser mit den nahezu unvergleichlichen Eigenschaften zeitigte lange nur entmutigende Ergebnisse: Wissenschaftler und Chemiekonzerne hatten jahrzehntelang erfolglos versucht, Spinnenseide künstlich herzustellen. Kommerzielle Spinnenhaltung erwies sich als aussichtsloses Unterfangen, denn im Gegensatz zu Seidenraupenlarven, die seit Jahrhunderten zur Herstellung von konventioneller Seide „geerntet" werden, benötigen Spinnen ihr eigenes Territorium und verhalten sich auch kannibalistisch. Sie fressen sich also gegenseitig oder versuchen, sich zu verstecken, wenn sie in engen Räumen gehalten werden.
Scheibel wählte eine andere Herangehensweise, indem er auf seinen biochemischen Hintergrund zurückgriff, um die Seidenproduktion in den Spinnendrüsen nachzuahmen. Er entwickelte einen zweistufigen Prozess: Zunächst veränderte er E.coli-Bakterien gentechnisch mit Genen der europäischen Gartenkreuzspinne und programmierte auf diese Weise die Bakterien auf die Produktion von Spinnenseidenproteinen um. So liefern die gentechnisch veränderten Bakterien im Labor aus Rohstoffen wie Rüben und Zuckerrohr Spinnenseidenproteine.
Doch dieser Durchbruch erwies sich erst als die halbe Miete. Was Scheibel brauchte, war der entscheidende zweite Schritt: Er musste den komplexen Mechanismus nachahmen, mit dem Spinnen Seidenstränge zu Fasern für ihre Netze „ziehen und spinnen". Die feine Proteinfaser, auch Gossamer genannt, , enthält pro Faden bis zu 1.500 Seidenstränge und wird in den Spinndrüsen der Tiere hergestellt. Entgegen der landläufigen Meinung wird der Faden nicht in die Luft geschossen, sondern langsam aus den Spinndrüsen gezogen. Die Nachahmung dieses Prozesses im Labor wurde zur Herausforderung schlechthin bei der Herstellung von Fasern aus künstlicher Spinnenseide. Auch hieran hatten sich viele Chemiekonzerne im Laufe der Jahre vergeblich versucht und wieder aufgegeben. Doch Scheibel blieb unbeirrt: „Unser Motto war: ‚Geht nicht, gibt's nicht‘. Wir hatten die felsenfeste Überzeugung, das muss doch irgendwie machbar sein." Es dauerte etwa ein Jahrzehnt bis zur Vollendung. Aber schlussendlich entwickelten Scheibel und sein Team erfolgreich ein komplexes mechanisches Verfahren, rohe Seidenproteine zu Seidenfasern für alle Arten von Produkten zu „spinnen".
Massenproduktion von künstlicher Spinnenseide
Um seine patentierte Erfindung im Industriemaßstab voranzutreiben, hat Scheibel 2008 das Unternehmen AMSilk mitgegründet, ein Spin-off der Technischen Universität München (TUM) in München. Das Start-up, dessen Beirat der Erfinder seit 2011 angehört, mobilisierte bislang einen zweistelligen Millionenbetrag an Risikokapital und beschäftigt 30 Mitarbeiter. 2014 machte das Unternehmen Schlagzeilen als erster industrieller Anbieter von synthetischen Seiden-Biopolymeren. AMSilk kümmert sich allein um die Vermarktung seiner auf Spinnenseide basierenden Materialien. Die geistigen Eigentumsrechte an der künstlichen Spinnenseide, einschließlich des Schlüsselpatents für Scheibels wichtige „Seamless Cloning"-Methode zur Nachbildung von Spinnen-DNA in Bakterien wurde auf AMSilk übertragen. Im August 2017 zählte das Innovationsmagazin Technology Review AMSilk zu den Top-50 der innovativsten Unternehmen weltweit.
Scheibels Spinnenseide (einschließlich
AMSilks Aufsehen erregendes Produkt Biosteel®, das 15 Prozent leichter als
herkömmliche synthetische Fasern ist) wird heute bei einer Vielzahl von Erzeugnissen
eingesetzt -von Kosmetika, medizinischen Anwendungen in Chirurgie und bei
Arzneimittelbeschichtungen über kugelsichere Westen bis hin zur Computerelektronik.
Weil sie vollständig biologisch abbaubar und biokompatibel ist und daher ein
geringes Abstoßungsrisiko aufweist, ist die neue Seide beispielsweise für
Implantate gut geeignet. Ihre Eigenschaften sind außerdem ideal für
chirurgische Instrumente und medizinische Textilien, wie zum Beispiel Netze,
Stützverbände oder Wundabdeckungen.
„Mit Spinnenseidenproteinen können Sie alles herstellen, was auch mit
Kunststoffen möglich ist. Und dafür brauchen wir nur Wasser, Raumtemperatur und
Selbstorganisation. Biosteel ist ein hundertprozentig grünes Produkt. Es ist
kunststofffrei, tierfrei und biologisch abbaubar", sagt der Erfinder.
Ein globales Netz spinnen
Der globale Markt für Biokunststoffe liegt derzeit schätzungsweise bei über 5,6 Milliarden Euro und wird - getrieben durch eine neue Generation an Materialien wie der Spinnenseide - voraussichtlich um 18,6 Prozent pro Jahr wachsen. Der Weltmarkt für synthetische Fasern, der Produkte von Kleidung über Spielzeug bis hin zu Heimtextilien umfasst, beläuft sich auf rund 38,2 Milliarden Euro. Darüber hinaus hat Scheibels Erfindung das Potenzial, den traditionellen Seidenmarkt zu erschließen, der bis 2021 auf 13,8 Milliarden Euro anwachsen soll. AMSilk teilt sich den aufstrebenden Spinnenseide-Markt mit mindestens acht Konkurrenten. Die Wettbewerber verfolgen unterschiedliche Ansätze, um Spinnenseide in großem Umfang anzubieten.
Inspiriert von der Natur
Thomas Scheibel promovierte 1998 in Biochemie an der Universität Regensburg und verbrachte drei Jahre als Postdoktorand an der University of Chicago. Dort untersuchte er im Labor der kürzlich verstorbenen Susan Lindquist, einer Wegbereiterin der Forschung zur biochemischen Rolle von Proteinen, modernste Techniken der Molekulargenetik und Zellbiologie. Zurück in Deutschland begann er 2001 als Assistenzprofessor an der Technischen Universität München (TUM), um sich den technischen Anwendungen von in der Natur vorkommenden proteinbasierten Materialien - einschließlich Spinnenseide - zu widmen. Seit 2007 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Biomaterialien an der Universität Bayreuth.
Thomas Scheibel ist ein produktiver Autor. Als Erfinder wird er in sieben europäischen Patenten genannt. Er verfasste 122 wissenschaftliche Artikel und 18 Buchkapitel. Daneben findet er auch noch die Zeit als Vorstandsmitglied bei den Wissenschaftszeitschriften BioNanoScience (Springer Verlag) und Scientific Reports (Nature Verlag) aktiv zu sein. Im Laufe seiner mehr als 25-jährigen Karriere in der Biochemie erhielt er zahlreiche Auszeichnungen für Forschung und Produktentwicklung, darunter den Bayerischen Innovationspreis (2006), die Heinz-Maier-Leibnitz-Medaille (2007) und den Dechema-Preis der Max-Buchner-Stiftung (2013). Im Jahr 2014 wurde Thomas Scheibel Mitglied der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und organisiert regelmäßig Biochemie-Kongresse wie die Konferenz zu bio-inspirierten Werkstoffen der Deutschen Gesellschaft für Materialkunde e. V. All diese Tätigkeiten verfolgt er, während er weiterhin seine Spinnenseiden-Anwendungen vorantreibt.
Medien- und Servicepaket
Der Blick auf die Patente: EP202136, EP2013290, EP1948684
Laden Sie unsere App „Innovation TV" auf Ihren Smart-TV und schauen Sie sich Videoportraits aller Finalisten auf Ihrem TV-Bildschirm an.
Bausteine der Zukunft:
Thomas Scheibels Hochleistungsfasern aus Spinnenseide sind nicht die ersten futuristischen Materialien beim Europäischen Erfinderpreises. Die deutschen Forscher Jürgen Pfitzer und Helmut Nägele vom Fraunhofer-Institut für Chemische Technologie haben 2010 in der Kategorie „Kleine und mittlere Unternehmen" für ihr Biokunststoff-Arboform aus „flüssigem Holz" den ersten Platz belegt. Zu den weiteren Materialien der nächsten Generation gehören Stahldraht infundierter Beton von der niederländischen Erfinderin Ann Lambrechts (2011; Industrie - Gewinner) und der von Luigi Cassar, Gian Luca Guerrini und seinem Team (2014; Industrie - Finalisten) entwickelte selbstreinigende Zement.
Pressekontakt:
Jana Mittermaier
Direktorin Externe Kommunikation
Rainer Osterwalder
Pressesprecher
EPO Press
Desk
Tel. +49
(0)89 2399 1833
Mobil: +49
(0)163 8399527
press@epo.org