4.3.5 Unvollständiges Vorbringen in Beschwerdebegründung oder Erwiderung – Artikel 12 (3) VOBK 2020 in Verbindung mit Artikel 12 (5) VOBK 2020
Nach den geltenden Grundsätzen der VOBK müssen die Beschwerdebegründung und die Erwiderung den vollständigen Sachvortrag der Beteiligten enthalten (Art. 12 (3) VOBK 2020, im Wesentlichen entsprechend Art. 12 (2) VOBK 2007). Zweck dieser Bestimmung, sowohl in der alten Fassung als auch in der revidierten Fassung ist es, ein faires Verfahren für alle Beteiligten sicherzustellen und es der Kammer zu ermöglichen, ihre Arbeit auf der Basis eines vollständigen Vorbringens beider Seiten zu beginnen (T 2610/16 mit Verweis auf Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Aufl. 2019, V.A.4.12.5; s. auch T 1904/16, T 113/18 und T 319/18).
In T 1439/16 wies die Kammer darauf hin, dass der Umfang der Beschwerde vom Beschwerdeführer definiert wird und die Beschwerdebegründung gemäß Art. 12 (3) VOBK 2020 das vollständige Beschwerdevorbringen eines Beteiligten enthalten muss. Im vorliegenden Fall sei es die Entscheidung des Beschwerdeführers gewesen, in der Beschwerdebegründung nur gegen Anspruch 1 und nicht gegen Anspruch 8 einen Einwand der unzulässigen Erweiterung des Gegenstands zu erheben.
Ebenso betonte die Kammer in T 1533/15 im Hinblick auf einen Fall, bei dem der Beschwerdeführer (Patentinhaber) erst sehr spät im Beschwerdeverfahren Hilfsanträge eingereicht hatte, die einen bestimmten Anspruch nicht enthielten, gegen den in der Einspruchsschrift und von der Einspruchsabteilung Einwände erhoben worden waren, dass der Beschwerdeführer in der Beschwerdebegründung sein vollständiges Vorbringen – einschließlich der Hilfsanträge, die nicht den strittigen Anspruch enthielten – hätte darlegen müssen (Art. 12 (3) VOBK 2020).
Nach dem neuen Art. 12 (5) VOBK 2020 steht es im Ermessen der Kammer, den Teil des Beschwerdevorbringens, der die Voraussetzungen des Art. 12 (3) VOBK 2020 nicht erfüllt, nicht zuzulassen. Beispielweise in den Entscheidungen T 1421/20 und T 2457/16 haben die Kammern unvollständiges Vorbringen im Sinne von Art. 12 (3) VOBK 2020 in Ausübung ihres Ermessens nach Art. 12 (5) VOBK 2020 nicht zugelassen. Wird der unvollständige Vortrag später vervollständigt, kann darin auch eine Änderung des Beschwerdevorbringens im Sinne von Art. 13 VOBK 2020 liegen (so z. B. in J 3/20, T 2227/15, T 326/16, T 1439/16, T 2796/17); s. auch V.A.4.2.2 k) "Ergänzung von in Beschwerdebegründung und Erwiderung nicht ausreichend substantiierten Einwänden"). In manchen Entscheidungen waren die Kammern ferner der Auffassung, dass Vorbringen bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätte eingereicht werden müssen, und liessen dieses nach Art. 12 (6) Satz 2 VOBK 2020 (s. z. B. J 3/20) oder nach Art. 12 (4) VOBK 2007 (s. z. B. T 925/16) nicht zu. In einigen Entscheidungen wird die Zurückweisung des Vorbringens allein auf Art. 12 (3) VOBK 2020 gestützt (s. z. B. T 565/16).